Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit baut die NATO an ihrem Raketenabwehrschild. Eine Radarstation mit Abwehrraketen soll heute in Rumänien für einsatzfähig erklärt werden - eine Provokation für Moskau. Als Folge könnte ein erneutes nukleares Wettrüsten drohen.
Von Christian Thiels, tagesschau.de
Warschau, Bukarest, Berlin, Rom - dem Erdboden gleich gemacht in einem nuklearen Feuersturm, ausgelöst von iranischen Atomraketen. Es waren dererlei Horrorszenarien, die die NATO 2010 bewogen, sich die US-Pläne für eine Raketenabwehr in Mitteleuropa zu eigen zu machen.
Heute nun soll die Raketenstellung samt Überwachungsradar im rumänischen Deveselu feierlich für voll einsatzfähig erklärt werden - für die Allianz nach eigenen Angaben "ein großer Schritt". Sogar NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat sich zur Zeremonie angesagt.
Das System besteht grob vereinfacht aus einem "Aegis"-Radar, wie es auch auf amerikanischen Kriegsschiffen eingesetzt wird, die im Mittelmeer als Teil des Raketen-Abwehrschildes stationiert sind. Außerdem wurden Abschussanlagen für die Abwehrraketen gebaut.
Keine Bedrohung aus dem Iran
Schon am Freitag soll in Polen der erste Spatenstich für eine weitere Raketenbasis erfolgen. Moskau argwöhnt schon länger, dass sich das System vor allem gegen Russland richte, weil es die Fähigkeit zu einem nuklearen Vergeltungsschlag verringern könnte. Das haben USA und NATO zwar immer wieder bestritten, doch die eigentliche Bedrohung, die das System abwehren soll - der Iran nämlich - taugt spätestens seit dem Atomabkommen nicht mehr so recht als Schreckgespenst.
Experten kommen zu der Einschätzung, dass Teheran derzeit gar kein Interesse an Raketen habe, die weit über den Nahen Osten hinaus Ziele treffen und womöglich mit Atomsprengköpfen bewaffnet sein könnten. "Es gibt keine schlagkräftigen Beweise, dass der Iran aktiv an der Entwicklung von Mittelstrecken- oder Interkontinentalraketen arbeitet. Und so etwas kann man auch nicht einfach so entwickeln", urteilt Michael Ellemann vom Londoner "International Institute for Strategic Studies" IISS.
Eine Provokation für Russland?
Syrien und Libyen, von den US-Planern ebenfalls als mögliche Gefahren angeführt, sind wegen des tobenden Bürgerkrieges kaum in der Lage, weitreichende Raketen zu entwickeln. Ist das NATO-Abwehrsystem also überflüssig oder gar nur eine unnötige Provokation für Russland?
So sehen es zumindest viele Kritiker. Alexander Neu, Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuss des Bundestages, warnt vor einer neuen Rüstungsspirale: "Mit dem NATO-Raketenabwehrsystem ist die Fähigkeit gegeben, Russlands Nuklearpotenzial zu neutralisieren. Allein das vertieft das ohnehin schon vorhandene Misstrauen enorm und zwingt die russische Seite wiederum, militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen."
Eine ähnliche Einschätzung kommt von eher überraschender Seite. Die militärische Führung der Bundeswehr hält die Stationierung des Abwehrsystems in der derzeitigen Lage für "nicht hilfreich", wie es ein hoher General im vertraulichen Gespräch formuliert, sie komme zur Unzeit. Denn die Lage zwischen Moskau und dem Westen ist derzeit alles andere als harmonisch.
Einschüchterungsversuche über der Ostsee
Die NATO verstärkt ihre Truppenpräsenz in Osteuropa - zwar in eher bescheidenem Umfang, doch als politisches Symbol durchaus beachtlich. Moskau reagiert mit
ähnlichen Gesten an seiner Westgrenze.
Über der Ostsee rund um das Baltikum versuchten sich beide Seiten in den vergangenen Monaten mehrfach gegenseitig, mit Kampfjets und Schiffen einzuschüchtern. Neben dem konventionellen Säbelrasseln könnte nun auch eine Neuauflage des nuklearen Wettrüstens bevorstehen.
Bereits Ende vergangenen Jahres drohte Russland angesichts der bevorstehenden Inbetriebnahme der NATO-Abwehrstellung in Rumänien schon einmal mit der Entwicklung von ganz neuen Interkontinentalraketen. Diese könnten "jedes Raketenabwehrsystem durchdringen", sagte General Sergei Karakaev, Kommandeur von Russlands Raketenstreitkräften.
INF-Vertrag steht infrage
Als Reaktion auf das Raketenabwehrsystem der NATO könnte Russland auch seine neuen und als sehr leistungsfähig geltenden Iskander-Raketen in der Ostsee-Exklave Kaliningrad stationieren und womöglich mit Atomsprengköpfen bewaffnen.
Schon jetzt gibt es laut dem scheidenden NATO-Kommandeur Philip Breedlove eine Marschflugkörper-Version der Iskander, die das INF-Abkommen über die Vernichtung landgestützter nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen unterwandere. In Moskau hält man dagegen und erklärt den NATO-Abwehrschild als Bruch desselben Abkommens, das 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnet wurde.
Bei Sicherheitspolitikern in Berlin, aber auch in Washington wächst die Sorge, dass Russland nun den gesamten INF-Vertrag aufkündigen könnte. Zumal die Leistungsfähigkeit der NATO-Raketenabwehr durch die Ausstattung mit moderneren Raketen in den kommenden Jahren noch deutlich steigen soll und damit auch die gefühlte Bedrohung in Moskau.
Die drohende Eskalation wäre vermeidbar gewesen. Schon 2007 bot Russlands Präsident Wladimir Putin dem Westen eine Kooperation bei der Raketenabwehr an. Dafür sollte die russische Radarstation in Gabala in Aserbaidschan in das System eingebunden werden. US-Experten besichtigten die Anlage aus Sowjetzeiten in der Folge auch, urteilten aber, dass sie veraltet und deshalb unbrauchbar sei. Obwohl Moskau eine Modernisierung in Aussicht stellte, wurde das Angebot schließlich abgelehnt.